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Hannah Arendt und Richard Jacob Bernstein zur Demokratie.

Denkanregungen für die demokratische Praxis in Hannover   

Mi., 24 August 2022

MEINUNG, WAHRHEIT und POLITIK

Weil Politik auf instabilen und widerstreitenden Meinungen (doxai) basiert, nicht auf echter Erkenntnis ewiger Formen bzw. Ideen, kann es den Anschein haben, als würden in der Realpolitik Macht und Gewalt darüber bestimmen, was richtig und gerecht ist. Der Konflikt zwischen Wahrheit und Meinung erwuchs aus zwei diametral entgegengesetzten Lebensweisen – dem Leben des Philosophen und dem Leben des Bürgers in einer Polis. Den sich ständig verändernden Meinungen des Bürgers über die menschlichen Angelegenheiten setzt der Philosoph die VERNUNFTSWAHRHEIT über das, was ewig währt, entgegen, eine Wahrheit, aus der sich Grundprinzipien ableiten lassen, welche den menschlichen Angelegenheiten Stabilität verleihen.

Dazu Hannah Arendt:

„In diesem Zusammenhang wurde [irrtümlicher Weise] die Meinung als der eigentliche Gegensatz der Wahrheit etabliert und mit bloßer Illusion gleichgesetzt.

Die eigentlich politische Schärfe des Konflikts liegt in dieser Entwertung der Meinung, insofern dass nicht Wahrheit, wohl aber Meinung zu den unerlässlichen Voraussetzungen aller politischen Macht gehört.“ 1

Arendt behauptet, die Tradition der politischen Philosophie habe stets versucht, der Politik ihre Maßstäbe für Wahrheit aufzuzwingen.

Die Erörterung von Meinungen (in Arendts Sinne in einem öffentlichen Raum, der von einer Pluralität von Menschen geschaffen wird), ist der Wesenskern von Politik – oder vielmehr dessen, was Politik sein sollte. Kurz gesagt: Entgegen der philosophischen Tradition, Meinungen gering zu schätzen, preist Arendt den Meinungsstreit als konstitutiv für Leben und Würde der Politik.

Wenn Arendt von Meinungen spricht, meint sie nicht das, was in Meinungsumfragen gemessen wird. Individuen haben nicht einfach Meinungen; sie bilden Meinungen im Zuge und mit Hilfe der öffentlichen Debatte.

„Eine Meinung bilde ich mir, indem ich eine bestimmte Sache von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachte, indem ich mir die Standpunkte der Abwesenden vergegenwärtige und sie somit repräsentiere. […] Je mehr solcher Standorte ich in meinen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dies Vermögen der Einsicht […] und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meiner Meinung sein.“ 2

POLITIK, ÖFFENTLICHER RAUM, BÜRGER*INNEN AGORA HANNOVER, GLEICHHEIT DER BÜRGER*INNEN

Obwohl ein Neuanfang die menschliche Fähigkeit, anzufangen, etwas zu initiieren, etwas Neues in Gang zu setzten, hervorhebt, handeln wir nicht isoliert. Wir handeln gemeinsam mit unseren Mitmenschen und offenbaren, wer wir als besondere Individuen sind.

Eines von Arendts originellsten Konzepten ist die Idee des öffentlichen Raumes.

Öffentliche Räume existieren nicht von Natur aus; sie müssen von Menschen künstlich geschaffen werden. Das sind die Räume, in denen wir in Diskussion miteinander handeln, reden, Meinungen bilden und überprüfen. Streng genommen entsteht Politik zwischen Menschen.

Für unsere Beteiligungsarbeit in Hannover wollen wir folgerichtig einen BÜRGER*INNEN-AGORA schaffen, die zum Zentrum unserer Arbeit werden soll. Die Agorá Hannover schließt auch künstlerische Tätigkeiten ein. Künstler*innen sind auch teil des Unterstützer*innen Kreises in Hannover, der hilft innovative Beteiligungsstrukturen in der Stadt und der Region aufzubauen. 

Dazu verweist Hannah Arendt auf die Affinität zwischen der Politik und den darstellenden Künsten.

Hannah Arendt: „Genauso, wie das Musizieren oder das Tanzen oder das Theaterspielen für die Entfaltung ihrer Virtuosität auf ein Publikum angewiesen sind, das dem Vollzug beiwohnt, bedarf auch das Handeln der Präsenz anderer in einem eben politisch organisierten Raum, der keineswegs selbstverständlich und überall anzutreffen ist, wo Menschen in irgendeiner Art von Gemeinschaft zusammenleben. Eine solche für das Handeln erforderliche Staatsform war einmal die Polis.“ 3

Die Gleichheit der Bürger*innen in einer demokratischen Stadt ermöglicht Einfluss wie wir ihn in Hannover mit dem Unterstützer*innenkreis und dem zufallsbestimmten Beteiligungsrat anstreben. Dazu Hannah Arendt: „In der griechischen Polis garantierte ισότης Gleichheit, aber nicht weil alle Menschen als Gleiche geboren oder von Gott geschaffen sind, sondern im Gegenteil, weil die Menschen von Natur her (φύσει) nicht gleich sind und daher einer von Menschen errichteten Einrichtung bedürfen, nämlich der Polis, um Kraft des Gesetzes (νόμω) einander ebenbürtig zu werden. Gleichheit existierte nur in diesem spezifisch politischen Bereich, wo Einwohner der Polis als Bürger und nicht als Privatperson zusammenkamen. Auf diese Kluft zwischen diesem antiken Gleichheitsbegriff und den modernen Vorstellungen, denen zufolge die Menschen gleich geboren oder als Gleiche erschaffen sind und erst durch gesellschaftliche oder politische, also jedenfalls künstliche Einrichtungen ungleich werden, kann gar nicht nachdrücklich hingewiesen werden. Die Gleichheit in dem griechischen Stadtstaat war eine Eigentümlichkeit der Polis und nicht der Menschen, die ihre Gleichheit, nämlich das Vorrecht, sich unter ihresgleichen zu bewegen, ausschließlich dem Politischen und seiner Verfassung verdankten.“ 4  

In der griechischen Polis konnte man nur unter seinesgleichen frei sein. In der Polis gab es Freiheit nur unter politisch Gleichen.

Weiter mit Hannah Arendt: „Entscheidend für dieses Zusammensehen von Freiheit und Gleichheit ist, dass Freiheit sich griechischer Auffassung zufolge nur in gewissen, keineswegs allen menschlichen Betätigungen manifestiert, und zwar in solchen, die überhaupt nur möglich und realisierbar sind, wenn andere zugegen sind, um sie zu sehen, zu beurteilen und sich ihrer schließlich zu erinnern.

Daher bedurfte die Freiheit immer eines eigens für sie erstellten Raumes, in dem Menschen zusammenkommen konnten, des Versammlungsplatzes, der Agora, um den die Polis politisch zentriert war.5

Für Hannover streben wir mit dem zufallsbestimmten Beteiligungsrat an, u.a. Hannah Arendts Politikverständnis aufzugreifen:

Öffentliche Freiheit ist eine positive weltliche Errungenschaft, die entsteht, wenn eine Pluralität von Menschen in öffentlichen Räumen handelt und debattiert, Meinungen austauscht und auf den Prüfstand stellt und den jeweils anderen zu überzeugen versucht.

Das Bemerkenswerte an Hannah Arendt Politikverständnis ist, dass man es nicht als vertikal, als hierarchisch begreifen darf, denn als solches bedeutet es die Kontrolle eines Individuums oder einer Gruppe über andere. Macht ist bei Arendt vielmehr ein horizontaler Begriff: Sie entspringt und gedeiht, wenn eine Vielheit von Individuen gemeinsam handelt und sich gegenseitig als politisch Gleiche behandelt.

POLITISCHE PRAXIS und BÜRGER*INNENRÄTE

Für Hannover streben wir mit dem zufallsbestimmten Beteiligungsrat und dem Unterstützer*innenkreis ein Politikverständnis an, das wir von Hannah Arendt für unsere aktuelle Praxis aufgreifen können.

Hannah Arendt:

„Die Räte sagen: Wir wollen mitbestimmen. [Wir wollen debattieren.] wir wollen unsere Stimme irgendwo in der Öffentlichkeit zu Gehör bringen. [Und wir wollen die Möglichkeit haben, den politischen Kurs mit zu bestimmen]…

Wenn aber nur zehn Leute um den Tisch sitzen, da sagt jeder seine Meinung, da hört jeder die Meinung des anderen, da kann eine vernünftige Meinungsbildung durch den Austausch von Meinungen stattfinden.6

Arendt formuliert hier, was für sie stets grundlegend war und was auch für uns fundamental sein sollte – der Wunsch der Menschen, dass ihre Stimme in der Öffentlichkeit Gehör findet, dass sie an der Gestaltung ihres politischen Lebens wirklich teilhaben können. Sie wollte den [politischen] Geist, in dem öffentliche Freiheit lebendige Realität wird, wiedergewinnen und gedanklich fassen. Arendt hatte einen scharfen Blick für die in der modernen Gesellschaft vorherrschenden Tendenzen, die Politik und öffentliche Freiheit untergraben, verzerren und unterdrücken. Aber sie gab zu keiner Zeit ihre Hoffnung auf, dass der revolutionäre Geist wieder zum Ausbruch kommen könnte.

1 Hannah Arendt: WAHRHEIT UND POLITIK in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S.327

2  Ebd. S. 342

3 Hannah Arendt: FREIHEIT UND POLITIK in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, S.207

4 Hannah Arendt: ÜBER DIE REVOLUTION, S.36

5 Ebd. S. 37

6 Hannah Arendt: MACHT UND GEWALT, S. 132f.DieSätze in eckigen Klammern finden sich nur in der englischen Version des Textes: Hannah Arendt, THOUGHTS ON POLITICS AND REVOLUTION.

Die Texte sind aus Zitaten von Richard J. Bernstein (2021) aus DENKERIN DER STUNDE ÜBER HANNAH ARENDT (Suhrkamp) zusammengestellt. Die dort enthaltenen Zitate von Hannah Arendt sind mit Quellenangabe gekennzeichnet.

Bernstein wurde am 14. Mai 1932 in Brooklyn in eine jüdische Einwandererfamilie der zweiten Generation geboren. Richard Jacob Bernstein  (* 14. Mai 1932; † 4. Juli 2022) war ein US-amerikanischer Philosoph, der an der New School for Social Research lehrte und ausführlich über eine breite Palette von Themen und philosophischen Traditionen schrieb.  Während seines ganzen Lebens unterstützte Bernstein aktiv eine Reihe von sozialen Anliegen und war an Bewegungen der partizipativen Demokratie beteiligt. / Wikipedia

KLAUS WINDOLPH / PROTERRA / DEMOCRACY IN MOTION HANNOVER / BETEILIGUNGSRAT HANNOVER 24.8.2022

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