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Democracy in Motion

FREIHEIT, DEMOKRATIE, POLITIK – HANNAH ARENDT, HARALD WELZER und WOLFGANG HEUER

Sa., 29 Februar 2020

Bericht zum 15. Forum Democracy in Motion Hannover mit

PROF. DR. HARALD WELZER, PD DR. WOLFGANG HEUER, BARBARA KANTEL und dem Jungen Schauspiel Hannover sowie PROF. DR. JÜRGEN MANEMANN als Moderator

Neue Schwanenburg, Hannover, Do. 28.11.2019, 19-21 Uhr

  • Künstlerische Begleitung: Wir starteten in dieses Forum mit “FAKE YOUTH” – einem Kurzausschnitt aus der Inszenierung des Jugendtheaters des Schauspielhauses Hannover mit fünf Jugendlichen unter Verwendung von Texten von Hannah Arendt. Leiterin: Barbara Kantel, Junges Schauspiel Hannover – Leitung der Abteilung Künstlerische Vermittlung und Interaktion und Dramaturgin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen auf partizipatorischen, transkulturellen und intergenerativen Theaterprojekten.

„Wie wir sprechen, entscheidet darüber, wer wir sind – auch und gerade in der Politik.“

  • Mit diesem Ansatz von Robert HABECK suchten wir begriffliche und handlungsorientierte Klarheit bei Hannah Arendt:
  • „Der Sinn der Politik ist Freiheit.“ Warum sieht Hannah Arendt die Zukunft der Demokratie in einer umfassenden Teilhabe der Bürger*innen? Wolfgang Heuer und Harald Welzer begannen nach dem künstlerischen Auftakt mit einem jeweils 15 minütigen Input.

 

Input Wolfgang Heuer:

Der Auftakt zum Austausch über VON HANNAH ARENDT LERNEN – POLITIK, FREIHEIT und DEMOKRATIE kam von PD Dr. Wolfgang Heuer, Politikwissenschaftler vom Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft der FU Berlin:

Er zitierte einleitend Hannah Arendt: „Von Hannah Arendt lernen heißt siegen!“

Wolfgang Heuer stellte an den Anfang seiner Ausführungen die zentralen Anliegen von Hannah Arendt, die zusammen gesehen werden müssen:
– POLITIK ist nur mit politischer Gleichheit möglich und setzt kulturelle Vielfalt voraus und steht gegen ein verbrauchtes ambivalentes Identitätsdenken.
– FREIHEIT ist als „Freiheit frei zu sein“ zu verstehen – für ein gemeinsames Handeln in Pluralität, Intersubjektivität (Zwischenmenschlichkeit) und Föderalismus.
– DEMOKRATIE prägt Urteilen im Kontext von Wahrheit und Meinung – sie steht gegen die Macht der Fake-News, gegen Relativierung von faktischen Wahr-heiten und Negierung von Dialog und Deliberation.

POLITIK hat bei Hannah Arendt folgende Merkmale nicht

Politik kann nicht „liefern“, besteht nicht aus Verwaltung, kann nicht „herstellen“
Politik hat kein Übergewicht an Technokratie
Politik kennt keine angebliche Alternativlosigkeit, Alternativlosigkeit ist kein ak-zeptables Argument in der Politik
Politik besteht nicht in der Eroberung der Macht, nicht in der Herrschaft der ei-nen über die anderen, nicht in der Macht als Gewalt (von Plato bis Marx, Weber)

POLITIK besteht bei Hannah Arendt aus

einer Vielfalt von Handlungen mit „qualitativer Pluralität“, die im zwischen-menschlichen Bereich stattfinden und dabei Macht bilden,
eine solche Politik beruht auf Pluralität, sie ist keine kollektive Aktion, sondern basiert auf einem „Netz“ zwischenmenschlicher Beziehungen,
eine solche Politik ist unverzichtbar, weil es um das Gemeinwohl geht.

POLITIK zeichnet sich bei Hannah Arendt aus durch

Spontanität, Initiative ergreifen (Fridays for Future, NGOs),
das Unerwartete/Unvorhersehbare (FFF, Trumps Wahl, Arabischer Frühling),
die Abwesenheit eine*r Anführe*in; das Ergebnis der Politik ist aufgrund des Netzes der Beziehungen immer anders als von den einzelnen Akteuren ursprünglich gedacht, gemeinsames Handelns, des Versprechens, des Vertrauens, um überhaupt handeln zu können, und des Verzeihens, um weiter handeln zu können.

POLITIK basiert auf politischer Gleichheit bei kultureller Ungleichheit/Differenz (Kultur, Religion, Nationalität)

beides muss garantiert sein, um von Freiheit in Politik und Gesellschaft reden zu können.
Das basiert auf der Tradition von Montesquieu und den US-Gründungsvätern.

POLITISCHE GLEICHHEIT ist unverzichtbar

Ohne politische Gleichheit entsteht ein Kampf der Kulturen um die Vorherr-schaft.
Keine politische Gleichheit impliziert die Unterdrückung der anderen Kulturen.
Keine politische Gleichheit schafft Nationalismus. Nach Hannah Arendt „erobert die Nation den Staat“. Das führt zu Identitätsrassismus.

POLITIK zeigt Tugend und Laster

Politik zeichnet den Besten /die Beste aus (Brandt)
Politik sollte nicht den Ehrgeiz auszeichnen, der Beste zu sein (Trump)

Resümee:
Von Hannah Arendt lernen – Politik:
Politik ist unverzichtbar, ein eigenständiges Phänomen, beruht auf Pluralität, führt zu Ergebnissen, die nicht immer gewollt waren.

FREIHEIT nach Hannah Arendt

Politische Gleichheit ermöglicht erst Freiheit.
Der Sinn von Politik ist Freiheit. Freiheit kennt keine Einschränkung auf privates Glück oder den neuen Menschen oder die neue Gesellschaft.
Voraussetzung von Freiheit ist Die Freiheit, frei zu sein von Furcht (Tyrannei) und Not (Armut).
Freiheit versteht sich als „Freiheit zu“, nicht „Freiheit von“.
Freiheit ist nur in der Anerkennung der „qualitativen Pluralität“ (einer Vielfalt von Handlungen im Zwischenmenschlichen) möglich: „Das Faktum menschlicher Pluralität, die grundsätzliche Bedingung des Handelns wie des Sprechens, manifestiert sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit. Ohne Gleichheit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von Unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschieden Sein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung.” (Hannah Arendt)
Freiheit entsteht in dieser „qualitativen Pluralität“ im gemeinsamen Handeln, eines Dazwischen, eines In-BETWEEN, in dem alle politischen Phänomene als zwischenmenschliche Phänomene erscheinen (wie Macht, Autorität, Gewalt).
Freiheit setzt die Abkehr von Descartes’ COGITO ERGO SUM / vom Subjekti-vismus voraus

Resümee:
Von Hannah Arendt lernen – Freiheit:
Unser Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung zu öffnen zugunsten einer Zwischenmenschlichkeit/Intersubjektivität, die dem Vorrang des Subjektivismus (Descartes) widerspricht. Das Selbst entwickelt sich nur mit Hilfe der Anderen.
Freiheit gibt es nur in Gemeinschaft, daher haben wir Verantwortung für alles, was in dieser Gemeinschaft geschieht, sie “ist der Preis dafür, dass die Fähigkeit zum Han-deln, die schließlich die politische Fähigkeit par excellence ist, nur in einer der vielen und mannigfaltigen Formen menschlicher Gemeinschaft verwirklicht werden kann“.
Diese Pluralität findet auf institutioneller Ebene ihre Gestalt im Prinzip des Föderalis-mus. Das heißt, dass es keinen Nationalstaat geben sollte, der auf einer einheitlichen Ethnie gründet und eine uneingeschränkte Souveränität voraussetzt.

Freiheit basiert auf dem Prinzip der Gewaltenteilung nach Montesquieu: Machtstärkung durch Machtteilung – der Institutionen und des Landes.

Freiheit basiert auf Föderalismus, daher ist Hannah Arendt eine Denkerin, die für Europa schon weit voraus dachte. Nämlich an eine umfassende Partizipation durch kleinere Einheiten. Daher ist unter anderem das Problem des katalanischen Nationalismus und des spanischen Zentralismus noch zu lösen.

Hannah Arendt – Freiheit und Politik
Durch das FREISEIN, in dem die Gabe der FREIHEIT, des ANFANGEN-KÖNNENS, zu einer greifbar weltlichen Realität wird, entsteht zusammen mit den Geschichten, die das HANDELN erzeugt, der eigentliche RAUM DES POLITISCHEN. Es gibt ihn immer und überall, wo Menschen in Freiheit, ohne Herrschaft und Knechtschaft miteinander leben, aber er verschwindet – auch wenn das institutionell-organisatorische Gerüst, das ihn einschließt, intakt bleiben sollte – sofort, wenn das HANDELN aufhört, das Sich verhalten und Verwalten anfängt oder auch einfach die Initiative erlahmt, neue ANFÄNGE in die Prozesse zu werfen, die durch das HANDELN entstanden sind. aus: Hannah Arendt (2018): Mensch und Politik. Reclam. Seite 86-87.

DEMOKRATIE nach Hannah Arendt:

Aufgrund von Arendts Definition von Politik und Freiheit ist Demokratie mehr als die Form der Bildung von Mehrheiten und Repräsentation
Demokratie wird durch Institutionen der Machtteilung ermöglicht und begrenzt gegen den Populismus des „Wir sind das Volk“ in seiner aktuellen Ausprägung
Demokratie wird lebendig durch das jederzeit mögliche konkrete Handeln, durch Partizipation der Bürger*innen und durch spontane Organisationsformen wie BIs, NGOs, Räte
Demokratie wird eingeschränkt durch problematische Instrumente von Referenden ohne qualifizierte Diskussion (BREXIT)
Demokratie umfasst zivilen Ungehorsam: siehe Text Hannah Arendt zur Verteidigung der Verfassung
In der Demokratie führt Beteiligung, Mitdiskutieren und Intersubjektivität (Zwi-schenmenschlichkeit) zum richtigen Urteilen und zur Wahrheit (in Zeiten der Unsi-cherheit: Was ist Wahrheit, Meinung, Lüge?). Das Urteilen ist immer intersubjektiv, nicht auf Dogmen basierend. Demokratisches Urteilen fußt nicht auf weltabgewandten Philosophen, sondern entsteht aus den zwischenmenschlichen Räumen, aus politischer Beteiligung und aus gemeinsamem Nachdenken. Demokratie ermöglicht eine erweiterte Denkungsart, nämlich möglichst viele Perspektiven einzubeziehen: „Die Gültigkeit solcher Urteile ist weder objektiv und universal, noch subjektiv, von persönlichen Einfällen abhängig, sondern intersubjektiv oder repräsentativ.“ Hannah Arendt
Demokratie nimmt einen kosmopolitischen Standpunkt gegenüber anderen Völker und Philosophien ein
Angesichts der Globalisierung der Welt, erkannte Hannah Arendt bereits 1957, dass wir die Vielfalt der Perspektiven in dieser Welt zur Kenntnis nehmen müssen. „Es ist nur natürlich, dass die Reaktion auf die ungeheuren Gefahren und untragbaren Lasten der ‚Weltpolitik’ politische Apathie ist, die sich auch in einem isolationistischen Nationalismus oder einer verzweifelten Rebellion gegen moderne Technik äußern kann.“ Die Reaktion auf eine Art von globaler Zwangsvereinigung könne in „einem gewaltigen Zuwachs an gegenseitigem Hass und … gewissermaßen universalem Sich-gegenseitig-auf-die-Nerven-fallen“ bestehen. Daher benötigten wir, so Arendt, zur Schaffung einer positiven Solidarität „in gigantischem Ausmaß einen Prozess gegenseitigen Verstehens und fortschreitender Selbsterklärung“. „Positive Solidarität im Politischen kann es nur geben auf Grund gemeinsamer Verantwortlichkeit.“ (Hannah Arendt, „Karl Jaspers: Bürger der Welt“, 1957)
Demokratie setzt also voraus, diesen kosmopolitischen Standpunkt einzunehmen und eine Vielfalt von Perspektiven von Hegel, über die chinesische Philosophie bis hin zur Sichtweise afrikanischer Völker zu berücksichtigen. „Demokratie beinhaltet also einen Prozess gegenseitigen Verstehens und fortschreitender Selbsterklärung“, also viel mehr als nur „Diskussion“.

Resümee:
Von Hannah Arendt lernen – Demokratie:

Demokratie geht von großer Bedeutung der Pluralität im Handeln und Urteilen gegen Populismus (das Volk, Fake-News etc.) aus
Urteilen in der Demokratie muss auf der Grundlage der Unterscheidung von Wahrheit und Meinung, Tatsachenwahrheiten, kulturellen, religiösen, moralischen Wahrheiten und Meinungen stattfinden
Demokratie zeigt Gefährdungen, weil Politik es nicht mit unantastbaren Wahrheiten zu tun hat, sondern mit verschiedenen Meinungen und daher die Versuchung besteht, Meinungen zu faktischen Wahrheiten umzubiegen. In der Demokratie handelt die Politik wie die Lüge mit Veränderungen – beide benutzen die menschliche Vorstellungskraft, beide sind Ausdruck der Freiheit, daher ist die Lüge in der Politik attraktiv.
In der Demokratie helfen gegen die Verführungskraft und Macht der Fake-News, der Verschwörungstheorien und die Relativierung oder Negierung von faktischen Wahrhei-ten nur Dialog, Partizipation, das Prinzip der uneingeschränkten Öffentlichkeit und die Unabhängigkeit der Medien. Diese Sichtweise Arendts steht ganz in der Erbschaft der Aufklärung Kants und Rosa Luxemburgs, für die es eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache war, dass nach der russischen Revolution „ohne freie ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar ist“.

Input Harald Welzer:
Harald Welzer nimmt die Gedanken Wolfgang Heuers zu VON HANNAH ARENDT LERNEN – POLITIK, FREIHEIT und DEMOKRATIE auf und akzentuiert sie mit aktuellen Aspekten. Prof. Prof. Dr. Harald Welzer, Sozialpsychologe, Gründer von FUTUR II, Autor zahlreicher Bücher, Professor in Flensburg und Sankt Gallen:

Harald Welzer greift Arendts Gedanken von der „Freiheit zu“ auf und geht auf die ak-tuelle Klimadebatte ein. Er kritisiert diese gegenwärtige Debatte, die oft mit dem Statement „Wir haben keine Zeit mehr“ daherkäme. „Ich habe extreme Schwierigkeiten mit dieser Redeweise. Was heißt das? Ist die Freiheit vorbei, wenn der Temperaturan-stieg von 2 Grad erreicht ist?“
Für die menschliche Welt sei ja Kultur konstitutiv, etwas Eigenes neben den Überlebensvoraussetzun-gen.
Die berechtigten Forderungen nach Klimamaßnahmen seien aber mit Floskeln nicht zu lösen, ein anderes Klimaverständnis- und Problemlösungsverständnis müsse, wenn es auch sehr schwer sei, entwickelt werden. Ein Klimaverständnis, das auch die Wirtschaft und unsere Formen zu Wirtschaften miteinbeziehe, müsse entwickelt werden. Dafür müsse man sich die Freiheit und auch die Zeit nehmen. Die Floskel des „Wir haben keine Zeit“, beschneide ja jeden Freiheits- und Denkraum des Menschen. Das sei antiaufklärerisch, denn diese Haltung lähme die Menschen in ihren Problemlösungsstrategien eher, als dass es sie fördere.
Naturwissenschaftler leisteten ihren Beitrag zur Lösung der Krise, doch sie sollten sich auf naturwissenschaftliche Fakten beschränken und nicht in einer Weise über Gesellschaft sprechen, die kontraproduktiv sei. Lediglich ein 2 – Grad – Reduktionsziel einzu-bringen, sei völlig unzureichend und könne doch nicht in Gänze unsere Freiheitsziele markieren. „Es wird dieses 2-Grad-Ziel formuliert, das geisterhaft dasteht und die Poli-tik aushebelt.“
Statt dieser Debatte solle für die Praxis ein 0-Emmissionsziel ausgegeben werden, daran könne sich dann Effizienz messen lassen. Alles andere wie das 2-Grad-Ziel sei vermessen und anmaßend. „Die offene Gesellschaft ist die Basis für alles!“

Podiumsdiskussion mit den beiden Gästen aus der Wissenschaft, Wolfgang Heuer und Harald Welzer sowie mit Derwis Dündar vom Jungen Schauspiel Hannover; moderiert von Jürgen Manemann vom Forschungsinstitut für Philosophie Hannover:

Heuer: Unsere Gesellschaft habe sich heute auf das Denken von Hannah Arendt zube-wegt. Das zeigten Bürgerinitiativen, die Bewegung Fridays for Future und die zuneh-mende Beteiligung der Bürger*innen. Hannah Arendt habe Zuversicht für die gesell-schaftliche Debatte ausgestrahlt, sie kenne keine Hilflosigkeit wie in der Klimadebatte mit dem „Wir haben keine Zeit mehr“. Das habe Harald Welzer sehr gut im Sinne von Hannah Arendt herausgearbeitet.
Welzer betont die Notwendigkeit von Verständigungswegen über das was Wahrheit und das was Fake-News sind. Er macht deutlich, dass wie Manemann nach Arendt zitiert, die Wahrheit nicht unbedingt „tief im Menschen hänge“.
Das Podium verständigt sich angesichts der Existenz von Lüge und Wahrheit auf den Arendtschen Weg des Verständigens, der politischen Beteiligung und des gemeinsa-mem Nachdenkens.

Demokratie ermögliche eine erweiterte Denkungsart, nämlich möglichst viele Perspektiven einzubeziehen.
Manemann fragt, „Wie kann man mit Leuten von der AfD umgehen, kann man mit ihnen diskutieren?“ Antwort von Welzer: „Man kann gar nicht mit ihnen umgehen! Ich fühle mich von den Leuten der AfD angegriffen. Ich möchte Höcke nicht aufklären. Das ist alles unpolitisch, vielmehr gehört zur AfD als politischer Weg der politische Kampf.“ Mit denen, die die Grundlage des freien Gespräches selber angriffen, könne man nicht vernünftig sprechen. Das Politische sei „erfahrene Pluralität“. Hannah Arendt stelle dem Begriff der Diskussion das Sich- Selbst-Verständlich-Machen, das Sich-Erklären entgegen. Heuer: Auch bei den 68igern sei Diskussion oft eher ein Weg des „Fertig-Machens gewesen.

Manemann fragt nach dem Wert des „Geschichten-Erzählens“?
Welzer meint, das Geschichten-Erzählen sei „das größte, was wir Menschen haben“. Das Geschichten-Erzählen sei das Medium des Selbstverstehens und das Medium die Anderen zu verstehen. „Wir brauchen eine Erzählung der gesellschaftlichen Geschich-te“, nicht das „Storytelling“ der KI, der digitalen Welt oder der neoliberalen Scheinwirk-lichkeit.
Heuer pflichtet Welzer bei. Beim Geschichten-Erzählen gehe es nicht um „Ideologie“, um „Zwangsläufigkeit“, es gehe vielmehr um „politisches Denken“. „Was sind wir, wer sind wir?“ All das erzähle Hannah Arendt. Sie sei auch eine „Geschichten-Erzählerin“, meint Welzer, der gleiches auch von sich sagt.

Es gehe in der Politik um Beispiele, so Heuer, um Beispiele wie sie Vaclav Havel gege-ben habe, wie sie der Bürgermeister von Palermo formuliert habe und wie sie Willy Brandt mit dem „Unmögliches-Möglich-Machen“ präsentiert habe. Es gehe darum, Beispiele zu erzählen und keine Helden zu schaffen.

Manemann fragt nach der Bedeutung der an mehreren Orten entstehenden Bürgerräte, die als neues Beteiligungselement den Parlamenten und Stadträten zur Seite gestellt werden sollen, so auch z.B. in Hannover.
Heuer befürwortet das nach Hannah Arendt ebenso.
Dündar spricht sich ebenso für Bürgerräte aus, etwa wie den von der Politischen Beteiligungsinitiative-Democracy in Motion für Hannover entwickelten Beteiligungsrat, der dem Stadtrat für die Beteiligung der Einwohnerinnen und Einwohner zur Seite gestellt werden soll. Dieser soll nach dem Zufallsprinzip als repräsentativer Mini-Populus für zwei Jahre ausgewählt werden. Partizipation, Mitsprechen und Mitentscheiden sei sehr wichtig.
Heuer stellt nach Hannah Arendt klar, dass „die Entwicklung des Selbst in der Einsamkeit entsteht. Das Gegenstück ist die Masse ohne Ich und total verlassen. Der erste Schritt zur Partizipation muss nun einen Raum für jeden Einzelnen bieten, der sich dann öffnet hin zur Partizipation.“
Welzer sagt, er sei „ein erklärter Fan der Parlamentarischen Demokratie. Die Parlamen-tarische Demokratie sichert unsere Freiheit und unser Glücklich-Sein. Räte auf kom-munaler Ebene sind gut und unproblematisch. Man muss aber auch bedenken, dass besonders viele Rechtspopulisten nach mehr Elementen direkter Demokratie verlangen. Vor diesem Hintergrund sei das sehr mit Vorsicht zu genießen und mit berechtigtem Argwohn zu betrachten. Vorrang müsse im Augenblick haben, die gegenwärtigen demokratischen Institutionen und Strukturen zu sichern und zu stärken.“ Hierfür müsse man sich mehr Zeit nehmen, um die Thematik weiter zu diskutieren und voranzubringen.

Diskussion mit dem Publikum:
Welzer diskutiert mit dem Publikum weiter über die Parlamentarische Demokratie. Er zeigt seine Besorgnis darüber, dass die demokratischen Institutionen angegriffen werden. Dann werde es problematisch, wie gegenwärtig in Ungarn, Polen oder den USA. Die Weimarer Verfassung sei optimal auf Belange der Bürger als Masse zugeschnitten gewesen, das Grundgesetz aus gutem Grunde nicht. Das beruhe auf historischen Erkenntnissen. Es sei Vorsicht geboten, an diesen Strukturen des Grundgesetzes heute zu rütteln. In diesem Kontext sei auch zu beachten, dass Massenzustimmung gegenwärtig oft als Entlastung in der politischen Arbeit angesehen werde (Mainstream) und die Freiheit zum politischen Handeln als Zumutung empfunden würde.
Dündar flicht ein, dass politischer Gestaltungswille ja vom Kapitalismus unterbunden würde, der uns viele Schwierigkeiten gebracht hätte, weil wenige viel hätten und viele wenig.
Welzer entgegnet, dass man den Kapitalismus nüchtern betrachten müsse. Er habe auch Millionen Menschen ein besseres Leben ermöglicht. Und die Klimakatastrophe sei nicht deshalb so eklatant, weil wenige daran ursächlich viel Schuld trügen, sondern weil wir alle, weit über die Ressourcen unseres Planeten hinaus lebten und diesen Lebensstil verantworten wir alle zurzeit mit. Eine revolutionäre Ansatzweise brächte uns nicht weiter. Selbstverständlich sei vieles zu kritisieren, aber man müsste das giftige System, in und von dem wir alle leben von innen her verändern, aber so, dass es alle mittragen.

In der Debatte um die Parlamentarische Demokratie hätte die Diskussion noch weiter in die Tiefe gehen können, da die demokratischen Belebungsversuche an der Basis in vielen Städten Deutschlands, so zum Beispiel mit dem Konzept von additiven Bürgerräten zur Erweiterung und Unterstützung repräsentativer Strukturen nicht hinreichend zur Sprache kamen. Leider konnte dieser Aspekt nicht weiter untersucht werden, da sowohl Heuer als auch Welzer in dieser Thematik keine eigenen Erfahrungen oder Impulse einbringen konnten. Eine Vorstellung des Hannoverschen Konzeptes hätte an dieser Stelle den Rahmen der Diskussion überfrachtet. Der Grundtenor beider Diskutanten war jedoch: Bürgerräte in kommunalen Strukturen seien vorstellbar, auf Bundesebene jedoch unklar. Es wäre an dieser Stelle des Gespräches noch interessant gewesen zu erfahren, wie die positive Haltung von Hannah Arendt zu politischen Räten im Hinblick auf die Entwicklung unserer Parlamentarischen Demokratie zu bewerten wäre. Das Repräsentationsprinzip könnte zum Beispiel durch zusätzliche beratende und deliberative Strukturen in Form von Räten unterstützt werden. Diese könnten zum Beispiel ein wichtiges Gegengewicht zu anderen einflussreichen Lobbygruppen darstellen.

Die Diskussion befasste sich dann auf Anregung von Dündar hin mit dem Arendtschen Begriff zur „Banalität des Bösen“. Antwortend erläutert Heuer nach Arendt, dass, wenn wir Freiheit haben, auch Verantwortung für die gesamte Politik in Deutschland mitzutragen hätten. Zur „Banalität des Bösen“ gehöre, dass man sich z.B. keine hinreichenden Gedanken über kosmopolitische Auswirkungen der deutschen oder europäischen Politik mache. Problematisch sei auch in diesem Kontext die Entwicklung von Verwaltung und Verwaltungsstrukturen. Das erläutert Heuer dann nicht näher.

Die Debatte ging dann über zum Urteil in der Politik. Heuer erläutert im Sinne von Hannah Arendt, dass es die Kunst der Politik sei, alle Aspekte von überall her zu einem Urteil zu verbinden. Das geschehe heute häufig nicht, wie es auch Harald Welzer an seinen treffenden Einschätzungen zur Klimadebatte deutlich gemacht habe. Heute verunsichere uns so viel. Daher sei die gegenwärtige Entwicklung mit Fridays for Future großartig, sie trage zu einem klaren Urteil bei.

Manemann fragte abschließend nach der Revolution in der Politik. Heuer wies darauf hin, dass es Aufstände wie in Ungarn immer wieder geben würde, diese habe Hannah Arendt auch unterstützt. Eine Konstituierung der Freiheit (z.B. in Ägypten) sei aber schwierig.

Heuer weist die Diskussionsrunde auf das bekannte Paradoxon der Demokratie hin. Dass wir in der Demokratie frei entscheiden könnten, aber auch oft alle Grenzen über-schreiten würden.

Das Schlusswort bekam Dervis Dündar und bemerkte mit Blick auf die nicht vollständig abgeschlossene Diskussion zum Thema Demokratie: „Unser elementarster Fehler ist die Aufgabe der Weiterentwicklung unserer Demokratie, sie muss sich entwickeln können zum Wohle aller. Daran sollten wir nicht vergessen, fortwährend zu arbeiten.“ Das Publikum applaudierte ihm und das Podium pflichtet ihm bei.

Nach der Veranstaltung wurde im Restaurant „Essenzeit“ in der Schwanenburg noch bis 23.30 Uhr weiterdiskutiert, Kooperationen geschmiedet, neue Projekte angedacht und über das Gehörte reflektiert und kritisch weitergedacht.

Ein sehr tiefreichendes Lern-Forum zum Nachdenken, zum künftigen demokratischen Handeln und zum Verstehen der politischen Zusammenhänge mit 170 Gästen (bei ebenso vielen Absagen von den Veranstaltern aus Platzmangel).

Anette Wichmann, Klaus Windolph

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