Nobelpreisträgerin OLGA TOKARCZUK in UNRAST / Ästhetik und Politik
REISEFÜHRER
Mi., 01 November 2023REISEFÜHRER
„Beschreiben ist wie benutzen – es verschließt. Die Farben verblassen. die Kanten werden stumpf, das Beschriebene verblasst allmählich und verschwindet. Das betrifft insbesondere Orte. Die Reiseliteratur hat große Verheerungen angerichtet, wie eine Invasion, eine Epidemie. Die Baedekers haben den größten Teil der Welt ein für alle Mal zerstört, in Millionen von Auflagen und unzähligen Sprachengedruckt, haben sie die Orte geschwächt, sie festgenagelt, benannt und die Umrisse verwischt.
In meiner jugendlichen Naivität habe ich mich früher selbst ans Beschreiben von Orten gemacht. Wenn ich später an diese Orte zurückkehrte, tief Luft zu holen und mich noch einmal an die Intensität ihrer Präsenz berauschen, mein Ohr ihrem Wispern öffnen wollte – erlebte ich einen Schock. Die Wahrheit ist schrecklich: Beschreiben heißt vernichten.
Deshalb passe man besser auf. Am besten nennt man keine Namen. man solle verschlüsseln und verschleiern, Ortsangaben vorsichtig behandeln, um niemanden zu einer Pilgerfahrt zu verführen. Was würde der Pilger dort finden? Einen toten Ort, Staub, einen abgenagten Butzen.“
Wie wahr!! Und die Zerstörung setzt sich unvermindert fort. Die Menschen haben das Reisen verlernt. Die Folgen sind verheerend!
Nobelpreisträgerin OLGA TOKARCZUK in UNRAST, Seite 82