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HUMANISTISCH, FREIHEITLICH, DEMOKRATISCH

Wo bleiben diese Werte in der Europäischen Politik?

Fr., 19. Aug. 2016, 19:00 | Hannover


Wie ist es aktuell um die Demokratie in Europa bestellt? Am markanten Beispiel der Flüchtlingspolitik wollen wir dieser Frage nachgehen.

NIKITA DHAWAN aus Indien beim 8. DIM-Forum

Die aktuellen Migrationsbewegungen stellen den Solidaritäts- und Gemeinschaftsgedanken der Europäischen Union (EU) auf die Probe. Es sind Herausforderungen, die es den Mitgliedsstaaten abfordern, ihre nationalen mit multinationalen Interessen abzuwägen und Aushandlungsprozesse zu führen.
Die EU, eine Friedensnobelpreisträgerin, wird wegen ihrer Werte bewundert. Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit – es sind humanistische Prinzipen, die Menschen dazu bewegen, aufzubrechen und ihr Leben zu riskieren.
Unzählige Menschen sterben an den europäischen Außengrenzen. Gleichzeitig geht ein Rechtsruck durch Europa und Menschen wählen aus Überzeugung oder Protest verstärkt rechtspopulistische Parteien.
Wo bleiben die propagierten Werte in der europäischen Flüchtlingspolitik? Stimmen, die erkämpfte Grundsätze und Ideale verloren gegangen sehen, sind unüberhörbar. Viele fragen sich, ob bestehende Abgrenzungen in Zeiten globaler Bewegungen, Bedrohungen
und Handelsströme überhaupt noch zeitgemäß sind.

Zu Beginn des Forums wird Prof. Dr. Nikita Dhawan durch einen Vortrag in das Thema einleiten. Sie bezieht sich in einem Essay zur Flüchtlingspolitik „Aufklärung vor Europäern retten“ auf Kant, indem sie schreibt: „Kant schlägt einen Kosmopolitismus als Leitprinzip vor, um Menschen vor Krieg zu schützen und gleichsam ein Recht zu etablieren, das moralisch auf dem Prinzip universeller Gastfreundschaft zu begründen wäre.“ Ist diese grenzenlose Gastfreundschaft möglich? Inwieweit kann die Theorie des Kosmopolitismus, die auch Ulrich Beck propagiert, eine Antwort auf heutige Herausforderungen darstellen? Und welche Flüchtlingspolitik stellt Nikita Dhawan sich vor?

Diese Fragen wollen wir mit Ihnen und Euch diskutieren.

Nach der Veranstaltung ist das Restaurant „Essenszeit“ in der Schwanenburg geöffnet, wo der Abend bei Wein und leckerer Küche gesellig ausklingen kann.

Vortrag und Diskussion mit: Prof. Dr. Nikita Dhawan, Professorin für politische Theorie der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte sind Transnationaler Feminismus, Globale Gerechtigkeit, Menschenrechte sowie Demokratie und Dekolonisierung.

Bericht:

1. Frau Dhawan begann zunächst zu verdeutlichen, wie stark euro-päische Werte wie Demokratie, Aufklärung, Menschenrechte, Repräsentanz und Parlamentarismus in der ganzen Welt als Impulse gewirkt haben und es umgekehrt zahllose Rückwirkungen des Kolonialismus auf den Westen gab, die unsere Gesellschaft maßgeblich prägten. Auch in Deutschland, das nur wenige kurzzeitige Kolonien besaß:

a) Der deutsche Orientalismus spielte eine enorme Rolle für die politische Entwicklung Deutschlands. Es entstanden „Bilder im Kopf“, die die Gesellschaft bis heute prägen.
b) Die Kaffeehauskultur fußt auf kolonialen Einflüssen. Habermas und Kant meinten, dass öffentliche Räume, z.B. Kaffeehäuser, eine sehr große Rolle für die Entwicklung der Demokratie im Westen spielten.
c) Nach Hannah Arendt wurden in Kolonien Rassismus und Fa-schismus entwickelt. Z.B. waren die KZs in Lüderitz / Deutsch- Südwestafrika Experimentierfelder für den künftigen Totalitarismus 30 Jahre vor dem Naziterror. In der Charité in Berlin untersuchte der rassistische Forscher Fischer Schädel aus Deutsch-Südwestafrika, rassistische Methoden wurden schon damals von Deutschen und in Deutschland praktiziert und importiert. Als die Amerikaner die deutschen KZs auflösten, waren die weißen amerikanischen zutiefst geschockt, nicht aber die Schwarzen, die diese Bilder des Grauens bereits von heimischer Sklaverei kannten.
d) Kolonialismus war ja nicht nur ein Erobern der Welt, sondern das tief verwurzelte Denken des „wir bringen euch die bessere Welt“, also Gesundheit, Demokratie, Rationalität, Hilfe, Humanität, Technologie und vieles andere mehr. Aus diesem Denken ergibt sich auch heute die altruistische Einstellung bei der Migration, „ach die armen Flüchtlinge“. Man nimmt nicht wahr, was wirklich passiert, man versetzt sich nicht genug in die Rolle des Flüchtlings und wie die Fluchtumstände den Anderen prägen und verändern. Auch heute sind wir wieder in der Rolle der Helfer wie schon zu Zeiten des Kolonialismus. Sehr wohl konstatiert Nikita Dhawan eine gewisse Veränderung der deutschen Flüchtlingspolitik 2015, hin zu anderen Sichtweisen. Doch diese Politik sei nicht durchgehalten worden und tradierte Sichtweisen hätten wieder Priorität erlangt.

2. Was ist zu tun? Es reicht nicht, sich nur auf den eigenen Lebensbereich zu beziehen, die eigene Familie. Es ist notwendig Verant-wortlichkeit im Sinne eines Weltbürgertums zu übernehmen. Kants Weltbürgertum schließe die freie Mobilität ein, überall hinfahren zu können und Gastfreundschaft erfahren. Dieses Weltbürgertum unterscheide ein Besuchs- und ein Bleiberecht. Ein Besuchsrecht schließe auch „vernünftiges Verhalten“ ein, ein respektvolles Auftreten. Derrida weist darauf hin, dass Gastfreundschaft bedingungslos sei.
In diesen Kontext gehöre auch, dass Feminismus antirassistisch sei und dem Weltbürgertum nahe stehe.
Die Ablehnung der Flüchtlinge von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung widerspreche diesem kosmopolitischen Geist grundsätzlich, sei völlig unakzeptabel und nicht zukunftsfähig.
Also ein überzeugendes, hilfreiches und Mut machendes Plädoyer von Nikita Dhawan, uns kosmopolitisch zu bilden, transkulturell denken zu lernen und als Weltbürgertums handeln. Auf diesem Weg sind schon viele unserer hannoverschen Mitbürger/ -innen, die sich vielfältig kulturell lernend in den Nachbarschaftshilfen für Flüchtlinge engagieren. Aber auch die Grenzen überbergreifende Arbeit von Democracy in Motion ist nur aus einem solchen Ansatz erfolgversprechen.

3. Das Denken der Europäer muss für das Wissen der „anderen Welt“ aufgeschlossen werden. Es reicht nicht zu denken: Wir korrigieren unsere Fehler, o.k., dadurch machen wir unsere grundsätzlich richtigen Einschätzungen noch besser. Z.B. sprechen wir selbstverständlich Englisch, warum? Sind wir auch aufgeschlossen gegenüber anderen Sprachen? Wir beanspruchen das grundsätzlich richtige Wissen für uns. Doch Demokratie kam nicht nur aus Athen, sondern auch aus China, Partizipation wurden in vielen Kulturen praktiziert.
Nikita Dhawan meint, dass die Europäer dringend Selbstkritik an ihren eigenen Grundeinstellungen lernen müssten, bei allen un-abänderlichen großen europäischen Werten wie die Aufklärung, die Freiheit und Autonomie des Menschen. Schon jetzt, sagt Frau Dahwan, lache die Welt über die Europäer und ihre geringe kosmopolitische Wandlungsfähigkeit. Wenn die Europäer über Demokratie reden wollten, dann müssten sie selbstkritisch auch das Wissen der anderen Welt über Demokratie einbeziehen. Denn die Demokratie sei keine europäische Erfindung.

Nach Freud ist die postkoloniale Migration „unheimlich“, weil sie oft Menschen zu uns bringt, die vieles besser können als wir. Z.B. sprechen viele Zuwanderer besser Deutsch als viele Deutschen. Sie können vieles im Leben besser als die Einheimischen.

a) Daraus leitet sich ein Rechthabens-Narrativ ab, ein Besser-Sein-Narrativ des „weißen“ Denkens.
b) De-Kolonialisierung geht von Selbstkritik aus, die die andere Welt einbezieht.
c) Das freudsche „Unheimlich“ lässt sich nicht dadurch unterdrücken, dass Flüchtlinge heimische Menschen werden. Ihre Kultur tragen sie in sich und müssen sie leben können.
d) Es ist wichtig, Nietzsches „Schuld“, „Schuldenlast“ ernst zu nehmen. Dazu ist es stets erforderlich, Verbrechen der Ver-gangenheit aufzuarbeiten, wie die Deutschen den Holocaust. Ein Gegenbeispiel ist die Nicht-Aufarbeitung der französischen Kolonialverbrechen in Nordafrika.
Eine demokratische Gesellschaft setzt die Aufhebung historischer Defizite, die Aufarbeitung von Diktatur und Rassismus der Vergangenheit voraus. Das ist auch eine Anregung für die Entwicklung im Osten Deutschlands, wo Pegida und AfD offensichtlich mit Defiziten der Vergangenheitsaufarbeitung zu tun hat.

Als Fazit des Vortrags von Frau Dhawan fragt sie mit DERRIDA, ob die Aufklärung dadurch zu retten sei, dass die Europäer „Entwicklungshilfe“ brauchen. Die post-koloniale Theorie könne viel dazu beitragen, Denkblockaden zu öffnen, weltbürgerlich zu handeln, ja auch Demokratie und Aufklärung retten helfen.

All die großen europäischen Werte gelten unvermindert, ja, doch kann Europa das weltbürgerliche Öffnen des Denkens selbst bewerkstelligen, ohne Hilfe?
In diesem immer dringlicheren, intensiver werdenden Plädoyer für eine komplexe Intensivierung des demokratischen Denkens durch eine Öffnung zu kosmopolitischen Realitäts- und Denkzusammenhängen gelingt es Nikita Dhawan, einen Großteil des Publikums mitzunehmen, zu begeistern und zu komplexen Denkstrukturen anzuregen.

Die Zuhörer stellten viele Fragen nach dem Praxiswert der philosophischen Erkenntnisse. Wie immer bei philosophischen Vorträgen, überlegt man sich, wie man die richtigen philosophischen Intentionen in die Praxis umsetzen könne.

Damit kam es zu einer umfangreichen Diskussion des engagierten Publi-kums.

Einige Erkenntnisse aus der Diskussion:

ETHIK entsteht durch eine Politik des „Zuhörens“, auch des Wahrnehmens dessen, was nicht gesagt wird oder werden kann.
Handlungsfähigkeit von Menschen, im Schlechten wie im Guten, ernst nehmen; nachfragen, statt zu denken, ich weiß, was für dich gut ist.
Erneuerungspolitik wie die Aufarbeitung des Holocausts in Deutschland ist wichtig. Die Aufarbeitung der Diktatur in Ostdeutschland steht noch aus.
Auch „Schuld“ entsteht heute wieder, z.B. durch den „aktuellen Imperialismus“.
Journalismus läuft Gefahr, als „Zeuge“ instrumentalisiert zu wer-den. Daher ist bei jeder öffentlichen Einschätzung Vorsicht geboten. Selbstkritik ist stets notwendig. Wie gelingt es uns ein „ethisches Subjekt“ sein zu können.

Die Frage aus dem Publikum, wie wir Demokratie in der Praxis weiterentwickeln könnten, wenn wir all die Ratschläge der Selbstkritik, der Notwendigkeit historischer Aufarbeitung, der Berücksichtigung des Postkolonialismus und Weltbürgertums einbezögen, blieb letztlich offen. Frau Dhawan verwies auf die Problematik der Ideologie, auf das Versagen oft gutgemeinter Politik in der Praxis und die Komplexität der gesellschaftlichen Problematik. Das war für das Publikum bei aller Begeisterung über viele neue Denkansätze aus postkolonialer philosophischer Sicht doch etwas zu wenig. Da wäre Mehr erwartet worden.

Wir haben viel gelernt, aber an die Praxis müssen wir halt selber gestalten und politisch handeln. Nun kommt als nächster Gast des Forums Sinisa Sikman aus der Praxis des gewaltfreien Protestes in Serbien, einer Praxis, die immerhin den damaligen Präsidenten Milosevic gestürzt hat. Und nicht zuletzt versuchen wir uns in Hannover verstärkt an einer Arbeit, die sich in der Stadt Hannover praktisch niederschlägt

Ort: Neue Schwanenburg | Leinepark | Zur Schwanenburg 11 | 30453 Hannover

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